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Review:
Elektroakustische Musik & Computermusik von Martin
Supper
H.-J. Florian, August 1998
erschienen in "Mitteilungen 30" der Deutschen Gesellschaft
für Elektroakustische Musik
Nimmt man das 1997 im Wolke Verlag erschienene Buch zur
Hand, so fällt zunächst auf, daß es mit ca. 200 Seiten
recht dünn ausgefallen ist. Beim Durchblättern erschrickt
man gar, wenn nach gut 120 Seiten schon die Anmerkungen
erreicht sind. 120 Seiten über EM. Ein Buch für Einsteiger
und interessierte Laien also? Weit gefehlt: obgleich wohl
kaum als umfassende Monographie zu bezeichnen, birgt der
Text doch einige Überraschungen.
Dabei fängt das Buch eigentlich recht konventionell an mit
einem historischen Abriß, dem ein sehr schönes
Busoni-Zitat
vorangestellt ist: " Welch schöne Hoffnungen und
traumhaften Vorstellungen erwachen für sie! .. Nehmen wir
uns doch vor, die Musik zu ihrem Urwesen zuückzuführen;
befreien wir sie von den architektonischen, akustischen
und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung
und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und
Klangfarben.."
Um es gleich vorweg zu sagen: das Buch ist ganz und gar
kein traditionelles Lehrbuch über EM. Die Intention des
Authors scheint eher darin zu liegen, obigem Zitat
nachzuspüren und zu untersuchen, was aus Busonis
emphatischen Visionen über die Jahre hinweg bis zum
heutigen Tag geworden ist.
Dem geschichtlichen Abriß mit den Abschnitten
Live-Elektronik, Tape Music, Musique Concrete,
Elektronische Musik und Computermusik folgt das Kapitel
"Klangfarbe und Klangsynthese". Die im 20. Jahrhundert
immer stärker werdende Konzentration der Komponisten auf
den Parameter Klangfarbe wird von Supper als
Paradigmenwechsel bezeichnet. Boulez 1955: " Der Musiker
sieht sich vor die gänzlich ungewohnte Situation gestellt,
den Klang selbst erschaffen zu müssen." Konsequenterweise
wird das Phänomen Klangfarbe eingehend behandelt. So ist
z.B. der Wahrnehmung elektroakustischer Klangfarben ein
eigener Abschnitt gewidmet, der die häufig zu
beobachtenden Schwierigkeiten beim Hören "reiner
Lautsprechermusik" ebenso anspricht wie
wahrnehmungstheoretische Fragen nach den mentalen
Prozessen bei der hörenden Verarbeitung einer Musik, die
in der Regel keinerlei Kontext zur "realen Welt" bezüglich
Klanggenerierung (Gesten der Musiker) oder Komplexität
(Größe des Ensembles) zur Verfügung stellt. Dieser
Abschnitt illustriert darüberhinaus Suppers allgemeine
Vorgehensweise: die schwierigen Bereiche der Perzeption
von EM und der Probleme der Kognition werden auf nur drei
Seiten niedergelegt und können somit unmöglich erschöpfend
diskutiert werden. Der Leser erhält zwar durchaus einen
Einblick in die angesprochene Problematik, seine eventuell
erwachte Neugier bleibt jedoch unbefriedigt. In dieser
Situation bietet Supper einen Ausweg: die drei Seiten
enthalten acht Anmerkungen mit Literaturangaben von Platon
bis Xenakis. Damit sind dem Leser genügend Hinweise an die
Hand gegeben, um in eigener Regie das Thema vertiefend
studieren zu können.
Kaum überraschend nun, daß die gesamte Palette der
Klangsynthese von additiver Synthese über VOSIM bis hin zu
Physical Modeling auf ganzen 18 Seiten dargestellt wird
(inklusive einem Abschnitt über akustische Täuschungen).
Dabei erfährt man allerdings nur die prinzipiellen
Wirkungsweisen der einzelnen Techniken. Demgegenüber
nehmen die ästhetischen Hintergründe und Konsequenzen
einen breiten Raum ein. Zahlreiche Musikbeispiele werden
angeführt, und es vergeht (nicht nur in diesem Kapitel)
kaum eine Buchseite, die nicht mit wenigstens einem Zitat
eines Protagonisten aufwartet. Die so heraufbeschworene
Athmosphäre des Dabeigewesenseins verleiht dem Lesen eine
besondere Spannung.
Das folgende Kapitel mit der Überschrift
"Partitursynthese" besitzt mit 53 Seiten den größten
Umfang. Ausgehend von der Spannungssteuerung und den durch
serielles Denken geprägten Funktionsstücken G. M. Königs
wird im weiteren Verlauf eine unglaubliche Fülle von
Themen angerissen: Komponieren mit Markoff-Ketten, Königs
Projekte 1 und 2, Xenakis' stochastische Musik,
interaktives Komponieren, Chomsky-Grammatiken, L-Systeme
und andere Fraktale, zelluläre Automaten u.a. Der Text
erschöpft sich dabei keineswegs in der reinen Aufzählung
von Theorien, Techniken und Stücken: für mich entsteht
vielmehr der Eindruck eines Essays darüber, welchen
Einfluß die großen Neuerungen des
(natur-)wissenschaftlichen Weltbildes dieses Jahrhunderts
auf die Entwicklung der EM und deren Ästhetik gehabt
haben. Als Beispiel für die Breite der Diskussion mag die
Behandlung der Informationsästhetik dienen. Die auf den
Mathematiker G. D. Birkhoff zurückgehenden Untersuchungen
zu einem "Ästhetischen Maß" zur Bewertung und Synthese
künstlerischer Produkte wurden vor allem von Max Bense und
Abraham A. Moles Ende der sechziger und Anfang der
siebziger Jahre aufgegriffen und informationstheoretisch
verfeinert. Obschon Supper der Informationsästhetik
richtigerweise nur noch historischen Wert zubilligt, ist
es doch erstaunlich, diesem seinerzeit sehr populären
Thema in der sonstigen Literatur zur EM so gut wie
nirgends zu begegnen. Supper hingegen findet in seinem
Büchlein Platz für diese Denkweise in Zusammenhang mit den
Vorstellungen, die etwa der Computer Cantata (1962) von
Hiller und Baker zugrunde liegen.
Den Abschluß des Haupttextes bilden die Kapitel
"Künstliche Intelligenz und Kognitionswissenschaft" sowie
"Musik und Raum" mit einem Umfang von je fünf Seiten.
Für welche Zielgruppe mag nun dieses Buch geschrieben
sein? Weder wird die Historie der EM ausführlich
ausgebreitet, noch werden technische Details behandelt.
Wie weiter oben gezeigt, erfahren auch die besprochenen
Kompositionsverfahren nicht die nötige Darstellungstiefe,
um allein mit diesem Buch gerüstet etwa die eigene
kompositorische Arbeit bereichern zu können. Bleibt also
die Ästhetik und Musikphilosophie übrig? Auch das trifft
es nicht, denn kaum jemals verläßt Supper das sichere
Terrain der durch Zitate und Beispiele belegten
Rekapitulation der Fakten, so daß von einer
philosophischen Analyse keine Rede sein kann. Suppers
eigener Standpunkt bleibt häufig im Dunkeln.
Warum empfand ich dieses Buch trotzdem als spannenden
Lesestoff und werde es wohl noch viele Male zur Hand
nehmen? Weil es in beeindruckender Weise ein Geflecht aus
"Geschichte - Ästhetik - Methoden - Systeme" präsentiert
(so der Untertitel des Buches). Trotz der Kürze bietet
Supper einen fundierten Überblick über die vielen teils
entlegenen Arten und Weisen, elektroakustische und
Computermusik zu schaffen. Die zahlreichen Anmerkungen mit
Literaturangaben, ein Glossar und eine umfangreiche
Bibliographie mit Texten bis zum Jahre 1997 sowie ein
Personen- und Sachregister tragen ihren Teil dazu bei,
dieses Buch als Informationsquelle für jeden zu empfehlen,
der mit EM zu tun hat.
Literatur:
Martin Supper:
Elektroaktustische Musik & Computermusik,
Wolke Verlag, Hofheim 1997.
ISBN 3-923997-77-9
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