Folkwang Hochschule Essen, ICEM, 15.11.2001
"Musik stellt Ordnungsverhältnisse in der Zeit dar." So fängt Stockhausen an.
In dem Artikel "Wie die Zeit vergeht", der 1957 in "der Reihe" erschien, versucht Stockhausen, ein Verhältnis zwischen Dauer und Tonhöhe darzustellen, welches die Sprache der seriellen Musik besser übersetzen könnte. In den rhythmischen Reihen, die von Komponisten wie O. Messiaen oder L. Nono benutzt wurden, sieht Stockhausen einen Widerspruch zwischen Rhythmus und Tonhöhe. Die rhythmischen Reihen seien nicht logarithmisch - wie wir die Dauern wahrnehmen - sondern, linear aufgebaut. Stockhausen sagte folgendes:
"(...) zur Unterscheidung von Dauern ist das Verhältnis der Phasen maßgeblich, nicht die Differenz. In diese Reihenfolge [Abb. A1] bringt unsere Empfindung automatisch eine Hierarchie: das Verhältnis 2:1 ist das größte, einfachste, und Verhältnis 11:12 ist das kleinste, komplizierteste."
[O. MESSIAEN - Mode de Valeurs et intensités (1949-1950) - 3'44 ]
Diese Reihenfolge entspricht der sub-harmonischen Proportionsreihe.
[Abb. B1]
Stockhausen fragt sich, welche Reihenfolge würde dann der 12-Ton-Skala entsprechen?
[Abb.
A2]
[Abb. B2 - B5]
[STOCKHAUSEN, Klavierstück IX (1955-57) - 10'40 ]
Stockhausen spricht von Musik und Zeit und dem, daß die Musik Ordnungsverhältnisse in der Zeit darstellt. Aber was ist eigentlich die Zeit? Kann man sie überhaupt definieren? Läuft die Zeit von einem Punkt zum anderen? Und, ist Musik "in der Zeit", oder hat sie umgekehrt "Zeit in sich"?
Diese Fragen kann man nicht eindeutig beantworten. Wir müssen uns mit den philosophischen Begriffen der Zeit sowie mit der Entstehung der Welt auseinandersetzen. Trotzdem, die Fragen vervielfältigen sich. Gibt es nur ein Universum oder mehrere? Wie unterscheiden sich nur die Zeitstrukturen der belebten Natur von der unbelebten Natur?
"Was also die Zeit sei? Wenn es mich niemand danach fragt, so weiß
ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, so weiß ich es
nicht"
Kirchenvater Augustinus, Bekenntnisse (ca. 5. Jh.)
Seit langer Zeit beschäftigen sich Philosophen mit diesem Problem. Die Aporie, die der Kirchenvater Augustinus uns zeigt, ist unaufhebbar.
Henri Bergson unterscheidet zwei verschiedene Tempi: le temps durée (die erlebte Zeit), und le temps espace (die räumlich vorgestellte Zeit). Aber, wie Carl Dahlhaus lautet "Die Momente, die Bergson schroff voneinander trennte, sind aber nicht isoliert, sondern durch Wechselwirkung verbunden in der Erfahrung gegeben. Ist der temps espace, das leere Vor und Nach, eine Abstraktion vom temps durée, so sind andererseits die Dehnungen und Verkürzungen der erlebten Zeit erst faßlich vor dem Hintergrund der räumlichen. Und beide Momente, der temps espace und der temps durée, sind, als Zeitgerüst und Bewegung, in der Musik wirksam."
Harmut Kasten spricht von 5 Faktoren, welche die Wahrnehmung von Dauer
beeinflussen:
1. Emotionale Tönung: Gefühlsmäßig positiv
besetzte Erlebnisse werden in ihrer Dauer kürzer eingeschätzt
als gefühlsmäßig negativ besetzte Erlebnisse.
2. Dringlichkeitsgrad eines anstehenden Bedürfnisses: Mit
großer Dringlichkeit erlebte Bedürfnisse werden in der Rückschau
in ihrer Dauer länger eingeschätzt als mit weniger großer
Dringlichkeit erlebte Bedürfnisse. (Für die Mutter, die mit ihrem
verletzten Kind ins Krankenhaus fährt, dehnt sich die Zeit sehr -
auch im Rückblick, wenn das Krankenhaus endlich erreicht ist).
3. Aktivierungsgrad: Unter hohem Aktivierungsgrad zustande gekommene
Erlebnisse werden in der Erinerung kürzer eingeschätzt als Erlebnisse,
die ohne großes innere Engagement zustande gekommen sind.
4. Aufgabenqualität: Die Dauer von Aufgaben, zu deren Bewältigung
vor allem die in der linken Gehirnhemisphäre lokalisierten verbal-analytischen
Funktionen nötig sind, wird genauer geschätzt als die Dauer von
Aufgaben, die schwerpunktmäßig mit Funktionen der rechten Gehirnhälfte,
welche stärker nonverbal, ganzheitlich, intuitiv und ohne zeitlichen
Rahmen arbeitet, gelöst werden.
5. Abwechslung: Abwechslungsreiche Stunden vergehen wie im Flug
und werden in der Rückschau in ihrer Dauer meist überschätzt;
wenig abwechslungreiche Stunden vergehen subjektiv sehr langsam und werden
rückblickend in ihrer Dauer meist unterschätzt.
Kein Klang erreicht unser Gehirn in seiner ursprünglichen
Form. Gewisse extreme Bereiche werden weggefiltert, und wenn der Klang
zu laut ist, dann wird er gedämpft.
Die Reize werden empfangen, und von Milliarden Zellen, die miteinander bei einer bestimmten Geschwindigkeit kommunizieren, bearbeitet. Auch verschiedene Organe haben verschiedene Kommunikationsgeschwindigkeiten; Akustische Reize werden innerhalb einer Millisekunde, optische Reize innerhalb von 30 ms, verarbeitet.
Der primäre Kortex ist für die Analyse der Eigenschaften individueller Klänge (sogenannte "Kurzzeit-Erinnerungen") verantwortlich. Der sekundäre Kortex bekommt die Information vom primären und verarbeitet sie auf einer höheren Ebene. Die Entfaltung des Klanges in der Zeit wird in diesem Kortex stattfinden, wo er auch für Sprache und ihre Syntax - also für Struktur - verantwortlich ist.
Jede Nervenzelle schickt ihre Informationen zu ungefähr zehntausend anderen Nervenzellen, d.h., daß eine Zeitverzögerung zwischen dem Empfang und der Bearbeitung neuer Wahrnehmungen bereits in unserem Körper stattfindet.
Es gibt keine Wahrnehmung ohne Erinnerung und emotionaler Bewertung.
Alle Reize, die innerhalb eines selbst geschaffenen Zeitfensters von 30-40 ms eintreffen, werden so behandelt, als würden sie zum selben Zeitpunkt ankommen; d.h., daß Ereignisse, welche gleichzeitig oder nichtgleichzeitig sind, werden von unserem Gehirn entschieden, und die Entscheidung entspricht nicht unbedingt der physikalischen Realität.
Es gibt keine einzige, globale Gegenwart. Also das, was wir als unsere subjektiv erlebte Gegenwart bezeichnen, ist fast immer ein vielfältiges Gemisch von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen und Wahrnehmungen.
Moderne Physiker wie S. Hawkins stützen die Annahme, dass bestimmte
Orte (z.B. "schwarze Löcher") und Prozesse (z.B. "Supernovas") im
Universum eigene Zeitstrukturen und - Gesetzte aufweisen, d.h., dass Zeit
und Raum miteinander verknüpft sind. Es gibt nicht nur eine Zeit,
sondern mehrere. Jede Zeit gehört zu einem bestimmten Ort.
Der Physiker David Deutsch hat es folgendermaßen formuliert:
"Zeit fließt nicht. Andere Zeiten sind nichts anderes als besondere Fälle in anderen Universen. [...] Selbst in subjektiver Hinsicht bewegt sich das "Jetzt" nicht durch die Zeit. [...] Nichts kann sich von einem Moment zum nächstem bewegen. [...] Objektiv gesehen gibt es keine Gegenwart. Wir erfahren kein Fließen, kein Verstreichen der Zeit. Was wir erfahren, sind Unterschiede zwischen unseren gegenwärtigen Wahrnehmungen und unseren gegenwärtigen Erinnerungen vergangener Wahrnehmungen."
"Das Klangobjekt ist nicht mehr als ein zusammenziehender Prozess, der Prozess ist nicht mehr als ein ausgedehntes Klangobjekt."
Stockhausen entwickelte ein Verhältnis zwischen der Spektralstruktur des Klanges und dem Rhythmus; periodische Rhythmen entsprechen einem Klang, und aperiodische Rhythmen werden als Geräusch übersetzt. Stockhausen kommt dann zu einer Projektion der Mikro-Zeit in die Makro-Zeit, in der der Rhythmus sozusagen Klangfarb-Eigenschaften enthält.
Stockhausen entdeckte ein Verhältnis zwischen Mikro- und Makro-Zeit, um ein neue Semantik des Rhythmus und neue Begriffe wie "harmonisches Phasenspektrum" oder "Zeitgeräusche" zu schaffen. Durch die Zusammenziehung oder Ausdehnung der Zeit, harmonisches und inharmonisches Spektrum oder Geräusch, sieht Grisey die Kategorisierung des Rhythmus in Ordnung oder Unordnung. Für die beiden Komponisten ist die Projektion der Mikro-Zeit in die Makro-Zeit wichtig, mit der sie eine Übersetzung der Farb-Eigenschaften des Klanges als rhythmische Qualitäten darstellen können.
[ STOCKHAUSEN - Harmonische Rhythmus / Zeitgeräusche ]
[ GRISEY - Tempus Ex-Machina ]
1995/96 komponierte Grisey "Vortex Temporum" für Klavier und fünf
Instrumente. Er spricht über drei verschiedene Zeiten, die den drei
Sätzen entsprechen:
Erster Satz I. Zeit der Menschen; die Zeit der Sprache und der
Atmung;
Zweiter Satz II. Zeit der Walfische; die spektrale Zeit,
die Rhythmen des Schlafes
Dritter Satz III. Zeit der Vögel; Extrem zusammenziehende
Zeit, wo die Gestalten sich verwischen.
In "Jour Contre Jour" für elektronische Orgel, 13 Instrumente und Vierspur-Tonband, spricht Grisey auch von zwei Zeiten: der Alltagszeit und der musikalischen Zeit. Die beide Zeiten - die menschlich- biologische und die musikalische - werden durch eine Brücke verbunden. Ein Rhythmus, der das Herz simuliert, wird beschleunigt, bis der Rhythmus als Tonhöhe wahrgenommen wird.
Die zeitliche Struktur ist unterschiedslos, genau wie die interne Zeit des Werkes wo keine eindeutigen Unterbrechungen zu hören sind, nur ein stetiger Fluss. Ein Prozess, der von der höheren Lage bis zu dem tiefsten Ton läuft, beschreibt einen Übergang der Zeit von Tag zu Nacht, von Licht zu Dunkelheit.
[GRISEY, Jour Contre Jour (1978/79) für elektronische Orgel, 13 Instrumente und Vierspur-Tonband - 22'06'']
"Wir stehen der Welt also nicht Passiv gegenüber, sie widerfährt uns nicht, sondern wir filtern aus, was für uns Bedeutung hat und gestalten es um, so dass es in unsere Interessenlage bzw. in unseren Wissenbestand passt. Es deutet sich an, dass mit dieser neuen, modernen wissenschaftlichen Darstellung der menschlichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung auch ein neuartiges Bild eines aktiven, sich und seine Umwelt gestaltenden Menschen verbunden ist."