Verbrennungsritual 3: Letzte Kora

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Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück, bis in die Nacht unmittelbar vor der Verbrennung, in der jede und jeder sich noch ein letztes Mal persönlich von Seiner Heiligkeit dem 33. Menri-Trizin Lungtok Tenpa’i Nyima Rinpoche in dessen Wohnung von ihm verabschieden konnte, indem sie oder er eine weiße Khatag (tib. ཁ་བཏགས, Wylie: kha btags), einen weißen Schal aus Seide oder Kunststoff, vor dem Schrein, in dem sich der Leichnam des höchsten Lamas der Bön-Tradition befand, niederlegte.

Im Anschluss an diese letzte Verabschiedung versammelten sich DorfbewohnerInnen und BesucherInnen allmählich um das, was ich in Bezug auf die Verbrennungszeremonie bereits das „Ritualfeld“ genannt habe – sicher ein Begriff, der nicht nur physische Abgrenzungen bezeichnen muss, im Moment meine ich damit aber tatsächlich einfach den Teil des Rasenplatzes vor der dialektischen Schule, der parallel zur südlichen Wand des Haupttempels verläuft. Im Süden wird dieses Rasenfeld von den Balkon-Gängen der obersten drei Stockwerke einer der Gebäude umrahmt, in denen sich Mönchswohnungen befinden. Diese Balkone und das Dach fungierten nun als Zuschauertribüne. Im Osten befand sich der Treppenaufgang zum Dach eines weiteren Mönchsgebäudes. Auch dieser Treppenaufgang war nun, samt dem Dach, wohin er führte, Tribüne für das Publikum. Hier befand auch ich mich.
Des Weiteren war es möglich, direkt vor der südlichen Wand des Haupttempels zu stehen, also an der Nordseite des Ritualfelds. Doch dort durfte es nicht zu eng werden, da noch Platz frei sein musste für die Prozession, die den Leichenschrein, von mehreren Mönchen auf einer Sänfte getragen, auf dem Weg von seiner Wohnung zur Ritualstätte bei seiner letzten Kora (“Tempelumrundung”, tib. སྐོར་ར, Wylie: skor ra) begleitete.

Begleitet wurde diese Prozession außerdem von Musik. Einer Musik, die natürlich unzweifelhaft tibetische Ritualmusik war und aus den mir bereits bekannten Blas- und Schlaginstrumenten zu bestehen schien, die mich aber dieses Mal, aus Gründen, die ich bislang noch nicht genauer untersuchen konnte, geradezu “hochfahren” ließ, während die Instrumentalisten die Südwand des Haupttempels passierten: Das Zusammenspiel der metallenen Ideophone ergaben bei dieser Prozession einen musikalisch-klanglichen Charakter, der sich mich wie in einem selten gelungenen Konzert für Neue Musik fühlen ließ. Die diffizilen Einsatzabstände, Tonhöhen- und Klangfarbenunterschiede der verschiedenen Metallinstrumente erschienen wie durchkomponiert, – was sie nicht sein konnten, wie ich weiß, da es in der tibetischen Notation bezüglich Zeit keine Einheiten gibt, die diese Differenziertheit hätten wiedergeben können. Wie also kam es zu diesem verblüffenden musikalischen Gesamteindruck?
Oder es war soeben einfach das geschehen, was das Ziel jeder musikalischen Session mit genügend Raum zur Improvisation ist. Vielleicht war „es“ eben eingetreten, „das“, was sich in keiner Musik willentlich herbeiführen lässt, was aber immer wieder, in besonderen Augenblicken „passiert“, was „einfach kommt“, dieser besondere Moment, in dem alles stimmt, der sich selbst organisiert, in dem vielleicht alle Anwesenden gleichzeitig so sehr Schale sind, dass sie sogar das Schale-Sein selbst nicht mehr bemerken, weil kein Ego – oder was immer es ist – mehr da ist, das sich „ihm“ in den Weg stellt. War es das?

Aber wenn „das“ doch wirklich mit allen Mitteln der Kunst möglich ist, wenn es sowohl von vier oder fünf tibetischen Handzymbel-Spielern realisiert werden kann, und zwar draußen und im Gehen – d.h. inklusive aller Nebengeräusche der Natur – als auch von einer eingegroovten Jazz-Combo, einem Ensemble für Neue Musik oder einer Tanztheatergruppe, – warum verwenden wir dann nicht viel, viel mehr Aufmerksamkeit darauf, wie „das“ eigentlich entsteht, anstatt uns über äußere Mittel die Köpfe zu zerbrechen? Oder hoffen wir heimlich doch, wir könnten „es“ durch Systematisierung herbeizwingen?

Natürlich will ich damit nicht die Reflexion der äußeren Mittel abschaffen. Auch die Tibeter haben im Übrigen einen sehr sorgfältigen und genauen Diskurs über Herstellung, Material und Klangqualität der eingesetzten Instrumente. Und nur wenige im Kloster sind ausgebildete Musiker.
Aber ein wenig scheint da für mich eine Parallele zur Domäne der Medizin vorzuliegen, zur Diskussion um den Placebo-Effekt nämlich: Da zeig uns dieser in aller Offensichtlichkeit die Möglichkeit auf, Kranke rein durch das Antriggern der Kräfte ihres eigenen Bewusstseins zu heilen, und was tun wir? Statt tiefer in diese unglaubliche Möglichkeit hineinzusehen, verstärken wir die gegenteilige Art der Sichtweise und Therapie, als hätten wir Angst, dass der Placebo-Effekt von heute auf morgen die medizinische Ausbildung drohe abzuschaffen, – dabei müsste er doch im Gegenteil ein Teil von ihr sein und könnte sie, wie mir scheint, eher voranbringen.

Und wie ist es in der Musik? Ist es tatsächlich so, das „es“, dieser seltene gewisse Moment, immer tut und lässt, was er will und es sich auf Grund seiner Unbezwingbarkeit gar nicht erst lohnt, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen? Lohnt sich denn wirklich nur die Beschäftigung mit Dingen, die wir kontrollieren können? Würden wir an der Beschäftigung mit dem Unbezwingbaren nicht vielleicht viel schneller wachsen und lernen?


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