Zum Begriff “Ofen”

Ich verwende in meinen Berichten durchgehend für den Ort der Verbrennung das Wort “Ofen”. Der stupa-förmige Bau, der für die Verbennung des Menri-Trizin verwendet wurde, war aus Sicht der deutschen Sprache auch eben das: Ein Ofen. Ein wunderschöner natürlich. Vielleicht einer dieser Lehmöfen, die draußen hinter dem Haus Wärme geben, die manchmal noch ein Backfach haben und die mit Holz gespeist werden. Natürlich hatte der Verbrennungsofen in Dolanji kein Backfach…

Und hier beginnt bereits das Problem der Konnotationen, von denen der Begriff “Ofen” noch viel stärker aufgeladene mit sich bringt als die der Essenszubereitung:

Wenn die Bereiche “Tod” und “Ofen” in Kombination erscheinen, dann beginnt der Plot von Hänsel und Gretel im Hintergrund zu laufen. Irgendwo um einen herum scheint die Hexe fühlbar zu werden und man ist irgendwie froh, dass das Märchen ja am Ende gut ausgeht und demzufolge auch hier in Dolanji sicher alles in Ordnung sein werde.

Beim kombinierten Auftreten der Worte “Mensch” und “Verbrennen” beginnt leise die Inquisition im kollektiven Erinnerungsraum Bilder ins Bewusstsein zu projizieren, und man muss deutlich dagegen halten, dass dieser Mensch dort in Dolanji ja nicht lebendig verbrannt wurde, sondern dass es sich um einen Leichnam handelt. Und außerdem sei das Verbrennen hier eine Tradition.

Durch den so errungenen Rückzug der Inquisitionsbilder aus dem Konnotationsraum wird die Sache aber nicht wirklich besser, denn wenn man nun statt “Mensch” und “Verbrennen” die Konnotationsfelder “Leichnam” und “Ofen” kombiniert, beginnen stattdessen die Schornsteine von Ausschwitz im kollektiven sprachlichen Konnotationsraum zu rauchen, und das Geschehen um den Tod des Bön-Oberhauptes ist auf einmal von einer zutiefst bitteren Aura umgeben.

“Krematorium” schlugen mir einige vor, als ich auf der Suche nach einem angemessenen Begriff war, der den Leser vor dieser Art unangemessenen Konnotationen bewahren würde. Aber ein Krematorium war das, was ich da in Dolanji vor mir sah, nun wirklich nicht. Ein Krematorium ist eine rein funktionelle “Institution”, absolut un-rituell, un-zeremoniell und unpersönlich. Das Geschehen in Dolanji dagegen war persönlich, intim, jeden einbeziehend und dadurch zutiefst liebevoll.

Chörten” (tib. མཆོད་རྟེན , Wylie: mchod rten) wussten einige der westlichen Besucher, und ich war bereits froh damit eine Lösung gefunden zu haben. Google schien dem ebenfalls Recht zu geben. Ein Chörten sei das tibetische Wort für “Stupa”, der Form, die der Ofen hatte, und oft würden darin Feuerbestattungen vorgenommen werden.

Ich korrigierte den Begriff “Ofen” in allen Artikeln zu “Chörten” um und freute mich, nun einen angemessenen sprachlichen Zugang zur emischen Perspektive auf das Verbrennungsritual des Menri-Trizin gelegt zu haben.

Nur, um mir den Begriff noch einmal “offiziell” bestätigen zu lassen, schrieb ich (nach meinen Korrekturen) pro forma eine kurze Nachricht an einen der Bön-Geshés aus Dolanji, der während der gesamten Verbrennungs-Zeremonie dabei war und in etwa wusste, woran ich gerade arbeitete. Dass es doch richtig sei, dass das tibetische Wort für “Rinpoche’s oven” Chörten sei, oder? fragte ich. – Er schien die Frage jedoch nicht recht zu verstehen und antwortete entschuldigend: Ein Chörten sei eine Stupa, kein Ofen. Er werde aber versuchen, das Wort, nach dem ich suchte herauszufinden…

Daraufhin schickte ich ein Bild des Ofens mit der Frage, was das tibetische Wort dafür sei. “སྐུ་གདུང་ཞུགས་སའི་མེ་ཐབ” war die Antwort, die ich anschließend mit zwei tibetologischen Bekannten aufdröselte und die demzufolge in etwa bedeutete:

“Der Ofen/Feuerplatz, dem der Leichnam/die Reliquien einer ehrwürdigen Person übergeben werden.”

Womit ich wieder am Anfang war.

Ich überlegte kurz, ob ich nicht einfach das Wort “Methab” (tib. མེ་ཐབ།, Wylie: me thab; – die letzten beiden Silben in der Antwort des Geshés) einführen sollte, das ja in dem Antwortbegriff für “Ofen” stand. Mir wurde aber von tibetologischer Seite davon abgeraten, und außerdem bringt die Einführung eines Begriffs nichts, wenn dieser de facto von niemandem, weder den Mönchen noch den Tibetologen noch sonst einem westlichen Besucher je so verwendet wird.

Ich könne doch das Wort “Ofen” verwenden, schlug mit meine tibetologische Bekannte vor, und das dann mit einer Bemerkung versehen.
Dies ist hiermit geschehen. Aber mein Magen grummelt dabei nach wie vor:

Unsere Wahrnehmungen und Interpretationen der Wahrnehmungen sind zu einem großen Teil durch die Konzepte geprägt, die wir durch unsere Muttersprache erworben haben. Da es für die Objekte und Abläufe um den “Ofen” in Dolanji herum auf Deutsch kein entsprechendes Konzept gibt, wirkt die Verwendung des Wortes “Ofen” wie ein Filter. Dieser Filter blendet wichtige Details aus und ergänzt durch Konnotationen solche, die womöglich gar nicht da waren. Er deutet und interpretiert Dinge zu Zusammenhängen, die aus tibetischer Sicht so nicht existieren, und er tut das ganz besonders auf affektiver und unbewusster Ebene, – indem er eben, fast unbemerkt, die Hexe im Hintergrund auflachen lässt, aber so, dass man es kaum merkt und nur denkt, dass “irgendwas aber doch ganz schön komisch ist bei den Bönpos.”

Einige Monate oder Jahre später, wenn man per Zufall einen Artikel in die Hände bekommt, in dem gegen die schamanistischen und schwarzmagischen Praktiken des so genannten “alten Bön” gehetzt wird, der mit dem Yungdrung Bön nichts zu tun hat, wird dieses “ganz schön komische” Gefühl dann der Nährboden für die ersten Zweifel: “Na, ob die nicht doch vielleicht auch diese Blutopfer machen und Hühner schlachten?” – so führt das Konnotationsfeld des Begriffs “Ofen” von der “Hexe” zu “Teufel” zu “Satan” zu “Satanismus” zu “Blutopfer” zu “Voodoo” zu “Stammeskult” etc… Eine Konnotationskette, die jedoch nur auf Deutsch funktioniert und auf Tibetisch gar nicht stattfinden kann.

Aufgrund dieser Art von Konnotationsketten im direkten Erleben und durch Reiseberichte wurden indigene Kulturen zu “Wilden” umgedeutet und waren die Missionare überzeugt, Gutes zu tun, als sie aktiv an der Kolonialisierung mitwirkten.

Das massive Problem an diesen Verkettungen besteht darin, dass wir uns als Europäer gesamtgesellschaftlich immer noch zutiefst weigern, diese Mechanismen aktiv zu reflektieren. Wir distanzieren uns zwar oft lauthals von unserer kolonialen Vergangenheit, aber wir wollen nichts davon wissen, dass die Ursachen für diese geschichtlichen Ereignisse zum Teil in sprachlich bedingten Reaktionsweisen liegen, die sich in ihren Automatismen und Wirkungen damals wie heute in nichts unterscheiden.

Das ist in jeder Sprache so, nicht nur auf Deutsch und nicht nur in Europa. Aber momentan sind “wir” die, von denen ein großer Teil der Welt existenziell abhängig ist. Wenn in einer tibetischen Exilsiedlung angenommen wird, dass man in Europa Kinder schlachtet, dann hat das nicht den geringsten Effekt auf die europäische Gesellschaft. Wenn sich aber in Europa auch nur der Eindruck durchsetzt, dass mit den Bönpos vielleicht “irgendwas komisch ist”, dann stoppt das unter Umständen Geldflüsse, die für die Exiltibeter existenziell sind und verändert politische Sichtweisen (“Na, vielleicht sollten wir doch lieber mit den Chinesen…”).

Natürlich wird die jetzige Verwendung des Begriffs “Ofen” in diesen Berichten nicht dazu führen, dass morgen allen Exiltibetern die Unterstützung entzogen wird oder alle Bön-Klöster von Missionaren gestürmt werden. So war es nie in der Geschichte. Es hatten sich nie erst alle lieb und dann, eines Morgens, wachte man plötzlich auf und begann “die Wilden zu zivilisieren”.

Das Riskante an der Verwendung des Begriffs “Ofen” in meinen Berichten ist, dass ein Konnotationsfeld eröffnet wird, wie ich es oben beschrieben habe. Dies kann zum Nährboden für die Bewertung der Bön-Kultur im deutschen Sprachraum und darüber hinaus werden, wenn man seinem englischsprachigen Bekannten abschließend sagt “It’s a pitty you cannot read these articles. They are really interesting. Even though… well, a little spooky, as well.” – schwupps, hat die Hexe die sprachliche Grenze überquert und ist in ihrer Wirkungsweise in den englischen Sprachraum eingewandert. Nicht mehr als “Hexe”, sondern als Adjektiv “spooky”, das weitere Konnotationsfelder mit sich bringt, die sich fortan um den Begriff “Bön” legen können.

Sprache ist Macht.

Ich bitte dies beim Lesen der Berichte im Hinterkopf zu behalten. Über Ideen oder Hinweise für eine bessere Begrifflichkeit anstelle von “Ofen” bin ich dankbar.