Wirkungen auf den Kompositionsprozess

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Großform

Die Erlebnisse auf der Reise nach Dolanji zur Verbrennungszeremonie des 33. Menri-Trizin bringen mich dazu noch einmal meinen Plan zur Großform der Komposition zu überdenken.

Ursprünglich hatte ich überlegt, fünf gleichberechtigte Einzelteile zu komponieren, die sich einzeln spielen lassen sollten und eventuell sogar unterschiedlich angeordnet werden könnten. Je nachdem wie ich mit dem gesetzten Zeitrahmen zurecht kommen würde, hatte ich als Möglichkeit sogar mehrere Kleinteile pro Element angedacht, die man entweder allesamt spielen könnte, oder aus denen man wählen kann, aus welchen Stücken sich die Komposition zusammensetzen soll.

Durch die Reise zur Verbrennungszeremonie bekommt nun aber das Feuerelement für mich einen sehr starken Akzent. Es erscheint mir deswegen momentan schlüssiger hier einen Höhepunkt oder Wendepunkt im Gesamtwerk einzuplanen. Dadurch würde jedoch die ganze Komposition narrativen Charakter bekommen. Eigentlich wollte ich das nicht. Will ich das jetzt doch? Oder gibt es vielleicht auch Höhepunkte, die keine Erzählung um sich herum erzeugen?

Außerdem habe ich Audio-und Videoaufnahmen aus dem Menri-Kloster mitgebracht, von denen ich zu Beginn des künstlerischen Prozesses nicht wusste, dass sie einmal vorliegen würden. Ich habe z.B. Videoaufnahmen von dem Parasol über dem Ofen. In den Tagen nach der Verbrennungszeremonie, an denen ich immer wieder am Ofen stand, habe ich zudem immer wieder das Feuer und das Flimmern aufgenommen, das oben aus dessen Öffnung kam.
Aus diesem Material entsteht nun zum ersten Mal die Idee für eine partielle Video-Ebene innerhalb der Gesamtkomposition. Die Idee ist dabei nicht, für alle Elemente eine jeweils passende Videostimme mitzukomponieren, sondern nur für das Feuer. Denn nur dafür ist mir das entsprechende Material entgegengekommen. Ich möchte für die anderen Elemente nichts künstlich erzwingen.
In Bezug auf das Element Wasser hingegen bleibt auch jetzt die Idee für eine Frauenstimme und/oder eine Bewegungschoreographie für eine Person.

Seit ich aus Dolanji zurückgekommen bin beginnt dementsprechend eine verstärkte Auseinandersetzung mit Videokomposition.

 

Wege und Orte – Linien und Punkte

Dadurch, dass man im Kloster bemüht ist, alle wichtigen Gebäude stets gegen den Uhrzeigersinn zu passieren (nicht nur, wenn man gerade gar nicht im Sinne hat, explizit Kora zu machen, sondern auch, wenn man eigentlich nur von A nach B will), wird mein Bewusstsein stärker darauf gelenkt, wahrzunehmen welche Wege man eigentlich überhaupt so geht. Die durchkomponierten Wege, wie ich sie bei der Verbrennungszeremonie beobachten konnte, stoßen ebenfalls ein Nachdenken über Wege im Raum an.

Dieses Nachdenken bzw. Bewusstwerden darüber, wo man eigentlich langgeht oder langging, mündet bei mir schließlich darin, dass ich beginne, Revue passieren zu lassen, ob es auch Wege gab, die ich gemeinsam mit dem Menri-Trizin zurückgelegt hatte. Wenn ja: Welche genau? Wie war die Raumform? Ich fragte mich, ob ich die gemeinsamen Wege wohl rekonstruieren könnte und stellte fest, das dies tatsächlich ganz einfach und im Ergebnis ziemlich prägnant war.
Ich bin mit Rinpoche nämlich nur genau einen Weg gemeinsam gegangen: von der nordöstlichen Ecke des Haupttempels, dort, wo es zur Terrasse seiner Wohnung ging, eine Kora, und dann bis vor seine Haustür. Das ergibt als Form ungefähr ein lateinisches kleines /q/ (unten auf der Zeichnung “Weg 1” in grün).

Weg 1

Zur Verbrennungszeremonie konnte ich dann von der süd-östlichen Ecke des Haupttempels eben diesen Weg noch einmal nachvollziehen, da der Leichenschrein, nachdem er aus der Wohnung herausgeholt wurde, ebenfalls zunächst eine Kora um den Tempel machte. Nur bog er nicht wieder ab in Richtung Wohnung, sondern ging eine halbe Kora weiter zum Ofen (=”Chörten”) (unten auf der Zeichnung “Weg 2” in blau).

Weg 2

Der gesamte Weg, den ich also auf meiner ersten Reise im April mit dem noch lebenden Rinpoche (und drei weiteren Mönchen) gegangen war, wurde im Oktober noch einmal von seinem Schrein „wiederholt”. Zwei Tempelumrundungen, die erste lebendig und die zweite auf einer Sänfte im Schrein, sind also die Wege, die ich bewusst mit dem Menri-Trizin mitgemacht bzw. mitvollzogen habe.

Im Zusammenhang mit der Begegnung mit dem Bön-Oberhaupt gab es aber noch etwas, was prägnanten Charakter im Raum hatte, nämlich die Orte, an denen es zu einer Begegnung kam, ohne dass dabei Bewegungen im Raum im Spiel waren:

  1. vor dem Haupttempel
  2. im Haupttempel auf seinem Thron
  3. in seiner Wohnung, erst im Gespräch, das nächste mal im Schrein
  4. am Ofen (= Chörten, sanskr.: stupa)
Wege und Orte

Etwas abstrahiert, und die Orte 3 und 4 zu einem zusammengefasst (warum eigentlich? – ich fand, es sieht so besser aus), könnten die Wege und Orte vielleicht zu folgender Kombination von Linien und Punkten werden:

Abstraktion der Wege und Orte

Wäre es möglich, diese graphische Ableitung in die Komposition mit einzubeziehen? In welcher Weise?

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