Feuer 1: Ofenbau und Butterlampen

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Auf dieser meiner dritten Reise nach Dolanji war ich nicht allein, sondern reiste in Gesellschaft und traf Bekannte aus aller Welt von meinen Besuchen davor. Meine Reisegefährtin Christine und ich, die wir den gesamten Weg von Deutschland nach Indien und zurück gemeinsam reisten, kamen am 27. September 2017 in Dolanji an und reisten am darauffolgenden 04. Oktober wieder ab.
Wir wurden somit Zeuginnen eines ganz bestimmten Ausschnittes der mehrere Wochen dauernden Rituale um den Tod des Menri-Trizin.

Der Ausschnitt, den wir gewählt hatten, war die Woche um die Verbrennungszeremonie des Bön-Oberhaupts, die am 02. Oktober 2017 morgens früh gegen halb sechs stattfinden sollte. Wir wussten über die sozialen Netzwerke, dass es möglich war, dieser Zeremonie beizuwohnen und entschieden relativ spontan, dies auch zu tun.

https://www.facebook.com/dennisokp/posts/316260222174193

Was in den Tagen um diese Zeremonie herum stattfinden sollte, war mir jedoch weitestgehend unbekannt. Blicke ich zurück auf die Woche, so erscheint es fast wie geplant, dass wir gerade demjenigen Abschnitt der Rituale und kultischen Handlungen beigewohnt hatten, die man gut und gern allesamt mit der Kapitelüberschrift „Feuer“ hätte versehen können.

 

Ofenbau und Kora

Bei unserer Ankunft war man bereits im Begriffe auf dem Rasenstück neben dem Haupttempel und vor der dialektischen Schule des Klosters die Rohform des Ofens aus Backsteinen und Lehm fertig zu stellen, dem der Leichnam des Menri-Trizin in Kürze übergeben werden sollte.

Der Rohbau des Ofens zur Verbrennung des Leichnams Lungtok Tenpa’i Nyimas

Eine der wesentlichsten gemeinsamen und gemeinschaftsstiftenden Handlungen von Nonnen, Mönchen, DorfbewohnerInnen und BesucherInnen ist, insbesondere zu einem Anlass wie dem gegebenen, das Umkreisen des Haupttempels und anderer heiliger Orte gegen den Uhrzeigersinn (die anderen Traditionen des tibetischen Buddhismus pflegen diese Tradition ebenfalls, die Bewegungsrichtung verläuft dort jedoch mit dem Uhrzeigersinn). Die einmalige Umrundung eines heiligen Ortes nennt man auf Tibetisch kora (tib. སྐོར་ར, Wylie: skor ra), die Tätigkeit des mehrfachen Umrundens wird ins Verkehrsenglisch der tibetisch-westlichen Begegnung als “to make/do kora” übersetzt und hat von dort aus auch ins tibetisch-buddhistische Gebrauchsdeutsch Einzug gehalten als “Kora machen”.

Durch die Menge der Menschen, die der Tradition des “to do kora” in den Tagen unseres Aufenthalts in Menri nachgingen, entsteht so ein dauernder, für den Einzelnen sich jedoch völlig ungezwungen ergebender linksdrehender Strom um das „Herz“ des Klosters herum, an dessen “Sinn- und Ziellosigkeit” man als auch in spiritueller Hinsicht oft zweckorientierter Westler seine Fragen haben kann.
Hat man jedoch die Möglichkeit, diesen Strom über Tage und Nächte mitzuverfolgen und ihn so allmählich zu internalisieren und Teil von ihm zu werden, so ist es kaum möglich, die wohltuenden Wirkungen einer solchen kollektiven Dauerbewegung  nicht langsam mitzuempfinden und nachvollziehen zu lernen.

Zu einem Anlass wie diesem scheint der unaufhörliche Strom um den Tempel eine eindeutige, sich nicht verbal, sondern energetisch artikulierende Mitteilung an alle machen zu wollen: „Da ist kein Stillstand, es gibt kein ‘Stopp’, es ist nicht das Ende, das Leben geht weiter.“

Und wie ein großes rotes Herz steht der Haupttempel da, während um ihn herum das Leben in Form von Menschen zirkuliert, die sich wie Blutkörperchen in Herznähe aufladen mit sozialer Begegnung, spiritueller Kontemplation, individueller Reflexion oder dem unaufhörlich andauernden Singen ein und desselben Gebetes für Lungtok Tenpa’i Nyima, dem „Langes-Leben“-Gebet, das inmitten eines so kraftvollen und vitalen sozialen Organismus wie dem, der sich hier um den Haupttempel bildet, nicht im Geringsten widersinnig erscheint. Denn wenn einer ständig anwesend und so präsent ist wie, zumindest für Gäste wie mich, vielleicht nie zuvor, so ist das Lungtok Tenpa’i Nyima, das gerade verstorbene Oberhaupt der Bön-Tradition.

Tempelumrundungen

Niemand ist gezwungen mitzulaufen, jeder kann genau so gut im Hof sitzen bleiben oder wann auch immer eine Pause beim Umkreisen des Tempels einlegen. Es ist keine soziale Kontrolle zu spüren, kein unterschwelliger Zwang mitzumachen, zumindest nicht soweit es mich als westliche Besucherin betrifft.

Was die tägliche unaufhörliche Umkreisung des Haupttempels außerdem mit sich bringt, ist die ständige Konfrontation jedes Einzelnen mit dem Vorangehen des Ofenbaus.

Als der Lehm getrocknet ist und die Maler sich an die Arbeit machen, bleibe ich lange vor dem Ofen sitzen und beobachte mit vielen anderen, zum größten Teil jungen Kinds-Mönchen, die Arbeit der Künstler.
Liebe, große Ruhe und Sanftheit scheinen auf ihrer Arbeit und ihren Gesichtern zu liegen. Der Ofen, in dem nun bald der Leichnam verbrannt werden soll, entwickelt sich zu einem mit größter Hingabe gestalteten Kunstwerk. Den vergehenden Kräften des Todes werden unmittelbar die kreativen gegenübergestellt, die den Tätigkeiten der Künstler innewohnen. Freude, Staunen, Schönheit und viel kindliche Neugier umgeben die Stätte, an der bald eine Leichenverbrennung stattfinden soll. Der Vergleich zum westlichen Konzept eines Krematoriums ist nicht gegeben. Stattdessen werden alle Gefühle gleichzeitig in mir getriggert und heben sich dadurch in großen Teilen einfach gegenseitig auf, wohl auch deswegen, weil der Verstand sie nicht mehr einsortieren und dadurch auch nicht an ihnen festhalten kann.

Bemalen des Verbrennungsofens

 

Butterlampen und Abendgebet

Zu Beginn des abendlichen Gebetsgesangs auf dem Tempelhof brennen die ganze Woche über Hunderte von Butterlampen, bis zur Verbrennung täglich in anderer Weise arrangiert zu verschiedenen Symbolen oder Schriftzeichen.

Anzünden der Butterlampen vor dem gemeinsamen Abendgebet

Die Butterlampen werden den Tag über von vielen helfenden Händen, gleich welcher Herkunft, kontinuierlich neu hergestellt und alte Schalen gereinigt:

Butterlampenherstellung vor der dialektischen Schule des Klosters

Ein und dasselbe Gebet wird bis kurz nach der Verbrennung vormittags und abends von allen Anwesenden gemeinsam gesungen. Während das Gebet vormittags für mich eher den Charakter einer gemeinschaftlichen Sammlung und Ehrenbezeugung gegenüber dem 33. Menri-Trizin hat, so scheint es sich abends zunehmend in ein Ereignis zu verwandeln, das sich u.a. durch den gewaltigen “kosmischen Kontext” erklärt, in den es gebettet ist, und der mir erst mit der Zeit bewusst wird:

In Dolanji vollzieht sich der Sonnenuntergang innerhalb einer spürbar kürzeren Zeit als in unseren Breiten. Der Übergang von hellem Tag zu vollständiger nächtlicher Dunkelheit passiert innerhalb einer Zeitspanne von etwas weniger als einer halben Stunde. In eben dieser halben Stunde trifft sich nun abends die Gemeinschaft aller im Kloster Anwesenden zum gemeinsamen Gesang des tiefen und getragenen Gebets, das aus verschiedenen Gründen melodisch zum Teil schwer nachzuvollziehen war, dadurch aber nichts von seinem Charakter einbüßte.

Fünf oder sechs Mal durften wir dieses abendliche Zeremoniell miterleben und an ihm teilnehmen (der Text wurde auf tibetisch und in lateinisch-englischer Umschrift verteilt). Und wie als Gegenstück zum Strom der Koras um den Tempel, der den ständigen Fortgang alles Lebens auszurufen schien und uns zu einem Teil dieser dauernden Veränderung und stetigen Bewegung machte, erschien diese Gebetsversammlung nun wie die Sichtbarmachung des Ewig-Unvergänglichen und Gleichbleibenden, als dessen Teil wir uns ebenso wahrnehmen können.

Während die Gemeinschaft der singend Betenden ruhig auf dem Tempelhof steht und das immer gleiche Abendritual intoniert, dreht sich der Planet, auf dem wir stehen und lässt den gigantischen Feuerball, der den ganzen Tag so selbstverständlich am Himmel gestanden hat, wie „in“ unserem Gesang untergehen, und zwar, da wir mit dem Gesicht nach Norden, in Richtung der Wohnung des Menri-Trizins gewandt stehen, gegen den Uhrzeigersinn.
Während unseres Innehaltens und Stillstehens in dieser halben Stunde umkreist uns überdeutlich das gesamte Universum, der Tag wird zur Nacht, aus den Vögeln am Himmel werden Sterne, dem scheidenden Feuerball am Himmel werden die Hunderte von Butterlampen am Boden vor dem Haus des Menri-Trizins entgegengesetzt, doch auch diese jeden Abend in anderer Formation, jeden Abend zu anderen Zeichen und Silben angeordnet. Das einzig Gleichbleibende, Unveränderliche und Unbewegliche in diesem Szenario der Veränderungen sind wir in unserem Stillstehen und dem gleichförmigen Klang des Gebets.

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[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Stupa


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