Feuer 2: Brennen und Wachen

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Brennen

Am 02. Oktober 2017 sollte der 33. Menri-Trizin gegen 05:30 Uhr verbrannt werden. Bereits am Vorabend wurde jedoch angekündigt, dass die Verbrennung sich vermutlich um zwei bis drei Stunden verschieben werde. Warum dem so sei, wurde nicht gesagt, der Grund dafür offenbarte sich jedoch durch den Ablauf der Nacht ganz von selbst: Jedem der Anwesenden, ob Nonne, DorfbewohnerIn, Mönch oder BesucherIn, wurde unmittelbar vor dem Bewegen des Leichenschreins zum Ofen die Möglichkeit gegeben, sich noch einmal persönlich vom Menri-Trizin zu verabschieden, indem sie oder er eine Khatag (tib. ཁ་བཏགས, Wylie: kha btags), einen weißen Schal, vor dem Schrein des Bön-Oberhauptes niederlegte. Und diese letzte Verabschiedung jedes Einzelnen dauerte dann eben doch einige Stunden, beginnend gegen 4 Uhr Nachts.

Zuvor wurde ruhig stehend, das Gesicht wie immer in Richtung der Wohnung des Oberhaupts gewandt, das Gebet gesungen, das sonst am Vormittag und bei Sonnenuntergang die Menge der Anwesenden zusammenführte und das beschriebene kollektive Innehalten in den sonst fein-beweglichen Klosterorganismus brachte.

Für eine westliche Besucherin sind im Kloster von Dolanji nicht viele überraschende oder einengende Regeln zu spüren. Ich hoffe, dass dieser Eindruck auf einem funktionierenden Gespür beruht und nicht im Gegenteil darauf, dass ich gerade durch einen Mangel diesen Gespürs über Monate Regel über Regel zertrampelt habe, ohne mir dessen nur im Geringsten gewahr zu werden – die Geschichte hat gezeigt, dass man als EuropäerIn durchaus dazu in der Lage wäre.

Drei Regeln sind jedoch so wichtig, das man sie selbst als EuropäerIn mitbekommt:

1. Niemand, kein Besucher, egal ob weiblich oder männlich, setze sich jemals auf die Sitzunterlagen der Mönche.
2. Man ziehe sich angemessen an.
3. Um spätestens 20:30 Uhr hat der letzte nicht-monastische Besucher den Bereich innerhalb der Klostermauern zu verlassen.

Die letzte Regel wurde ab der Vornacht des Verbrennungsrituals für drei Nächte aufgehoben, so dass es für jede und jeden möglich war, die gesamte Nacht innerhalb der Klostermauern zu verbringen.

Wenn eine Regel wie diese aufgehoben wird, die einen stark rhythmisch organisierenden Charakter hat, und wenn es von einer solchen Regel wirklich nur eine einzige gibt, die dafür aber so ehern da steht, dass man trotz asiatisch-tibetischer Freundlichkeit und nachsichtigem Verständnis gegenüber dem Fehlverhalten von BesucherInnen aus dem Westen auf einen möglichen Übertritt dieser Regel ganz direkt hingewiesen wird, dann ist die Wirkung der Aufhebung einer solchen Regel umso größer:

Während der drei Nächte um die Verbrennung herum, in denen das Feuer im Ofen kontinuierlich über 24 Stunden bewacht und am Brennen gehalten wurde, hoben sich durch Aufhebung der dritten Regel Unterschiede auf. Es war kein Unterschied mehr da zwischen dem, was am Tag und dem, was nachts rund um den Tempel geschah, und es gab keinen Unterschied mehr zwischen Monastischen und Nicht-Monastischen. Damit wurden extrem starke Kategorien nivelliert, und das erzeugt einen spürbaren Eindruck.

Und als ob der in dieser Art wahrnehmenden Besucherin ein Hinweis auf die Richtigkeit ihrer Beobachtung gegeben werden sollte, verwandelte sich auch das Feld von Butterlampen vor der ehemaligen Wohnung des Menri-Trizin fortan in ein unterscheidungsloses Meer von Hitze und Licht: Die Lampen wurden nicht mehr formiert, weder zu Symbolen noch zu Schriftzeichen. Auch hier waren keine Unterschiede mehr zu sehen. Das einzige, worauf das Augenmerk der Betrachterin gelenkt wurde, war das Brennen des Feuers als solchem.
Und nichts wirklich Bedeutendes schien mehr zu tun zu sein als dieses Feuer am Brennen zu halten: Das Feuer im Ofen von den drei offensichtlich extra dafür ausgewählten Mönchen, die sich in ihrem Dienst abwechselten und dafür anscheinend auch ihren gewohnten Wach- und Schlafrhythmus aufhoben. Und das Feuer des Meeres von Butterlampen von den Mönchen, Nonnen und BesucherInnen, die nur noch dafür sorgten, dass ausgediente Lampenschalen weggeräumt und durch neu aufgefüllte ersetzt wurden.

Butterlampen-Meer im Tempelhof

 

Wachen

Der offiziell bekanntgegebene erste Teil des Plans für die Nacht vor der Verbrennung bestand darin, dass von 22:00 Uhr abends bis 03:00 Uhr nachts von Monastischen, Laien-Praktizierenden, sonstigen DorfbewohnerInnen und BesucherInnen das “Langes-Leben”-Mantra für Lungtok Tenpa’i Nyima gesungen und Kora (“Umrundungen”, tib. སྐོར་ར, Wylie: skor ra) um den Tempel gemacht werden sollte. Parallel habe außerdem noch einiges andere stattgefunden, von dem ich selbst jedoch in dieser Nacht nichts mitbekommen hatte:

https://www.facebook.com/dennisokp/posts/319596215173927

Wie immer lag meinem Empfinden nach der Aktivität der Tempel-Umrundung auch in dieser besonderen Nacht kein Zwang für den Einzelnen auf. D.h. nicht jeder der oben Aufgezählten sollte als Individuum fünf Stunden lang singend um den Tempel gehen, sondern der Strom der Koras und der Gesang des Gebets sollten kollektiv für fünf Stunden aufrechterhalten werden. Es war jedem selbst überlassen zu sehen, wann und wie lange man seinen Beitrag dazu leistete.
Dass dies völlig störungsfrei und in müheloser Atmosphäre funktionierte, lässt mich auch im Nachhinein wieder über unser westliches Verhältnis oder unser Konzept von Individualität und Gemeinschaft grübeln. Wären wir im Westen zu einer solchen gemeinschaftlichen Handlung fähig? Noch dazu unter Einbeziehung eines relativ großen internationalen Besucheranteils? Ohne „Dienstplan“ oder Aufpasser, seien diese nun bewusst eingesetzt oder hätte sich von selbst formiert? Ich weiß es nicht.

Ich glaube, ich selbst bin in dieser Nacht gar nicht um den Tempel gegangen. Mich hat das „Wachen“ als solches zu stark in den Bann gezogen und erneut bei meiner christlichen Sozialisation angeklopft. Die sorgte dafür, dass ich mich, während ich mich im Tempelhof des Bön Mutterklosters am Beginn des Himalayas befand und der Verbrennung des Abtes entgegensah, parallel in eine neutestamentarische Szene versetzt fühlte, die, soweit ich mich in dem Augenblick erinnerte, in der Nacht vor der Kreuzigung stattgefunden haben soll: Jesus sei mit seinen Jüngern irgendwo nach draußen in einen Garten gegangen (war dieser nicht auch in irgendeiner Art von „Hof?“) und habe sie gebeten, mit ihm zu beten. Aber die Jünger schliefen ständig ein, und aus irgendwelchen Gründen, die mir schon als Kind nie wirklich verständlich erschienen, war das für den sonst doch so verständnisvollen und liebenden Jesus ein ungewöhnlich großes Problem, ja geradezu eine Enttäuschung. Auf dem Tempelhof sitzend hallte in mir die entsprechende Szene aus Bachs Matthäus-Passion wider, in der Jesus die Jünger rezitativisch fragt: „Könnt ihr nicht eine Nacht mit mir wachen?“ – und erweckten eine Art Kindslogik in mir, die zu dem festen Vorsatz führten, nun in dieser Nacht vor der Verbrennung des Abtes auf gar keinen Fall schlafen zu gehen, und zwar nicht zuletzt aus Neugier: Es scheint etwas auf sich zu haben damit, dass man vor Scheidemomenten bedeutender Persönlichkeiten nicht schlafen soll. Wenn ich herausfinden will, worum es dabei geht, ist wohl der erste Schritt, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und es einfach auszuprobieren.

Auch, wenn der Abt ja eigentlich bereits tot war, der Vergleich mit Jesus also nicht so wirklich gegeben war, machte mir meine eigene Verknüpfung mit der biblischen Szene deutlich, dass ich das Verscheiden des Abtes offenbar noch gar nicht in meine Realität aufgenommen hatte. Für mich saß er in den Tagen seit meiner Ankunft in seiner Wohnung in einer Kiste und gab ein großes Abschiedsfest, bei dem er ununterbrochen präsent war und sich über alle freute, die vorbeikamen. Eine Nacht vor der Verbennung des Leichnams fühlte ich mich wie eine Nacht vor dem Eintreten des Todes. Die wirkliche Realisierung des Todes vollzog sich für mich erst mit der Verbrennung des Leichnams.

Ich war in dieser Nacht also mit „Wachbleiben“ beschäftigt, empfand dieses aber wiederum nur dann als sinnvoll, wenn es nicht zur Quälerei wurde und entdeckte so zum ersten mal in meinem Leben den Minutenschlaf in aufrechter Haltung, etwas, was ich bislang nur von Erzählungen über die arbeitende Bevölkerung in Japan gehört hatte. Nach einer einzigen Einlage eines solchen im aufrechten Sitzen vollzogenen Kurzschlafs war ich körperlich und mental fit bis zum Abend des folgenden Tages.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Entdeckung des Minutenschlafs bereits das gewesen sein soll, worum es Jesus damals und nun vielleicht auch dem 33. Menri-Trizin oder zumindest den Klostervorstehern heute ging. Hier in Dolanji war diese Entdeckung aber zumindest ein Nebeneffekt, für den ich durchaus dankbar bin.


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