Feuer 5: Ein Stück Kohle

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Am 04. Oktober 2017, dem letzten Tag unseres Aufenthalts in Dolanji, wurden die letzten heiligen Brennmaterialien aus dem Tempel dem Feuer des Ofens übergeben.

Verbrennen der letzten Ritualgaben am 04. Oktober 2017

Man erklärte uns, dass diese letzten Materialien gleichzeitig auch die kostbarsten seien. Nach ihrer Verbrennung würde man das Feuer ausgehen und den Ofen fünf Tage abkühlen lassen. Danach werde man die Asche auf Reliquien untersuchen.

Das Verbrennen der letzten Materialien fand gegen 9 Uhr vormittags im Rahmen einer weiteren, eigenen Zeremonie statt.

Zu dieser versammelten sich DorfbewohnerInnen, BesucherInnen, Nonnen und Mönche in etwa gleicher Aufstellung wie zur Verbrennungszeremonie um den Ofen.

An der Nordseite des Ritualfelds wurden die Brennmaterialien aufgestellt. Überwiegend handelte es sich dabei um ca. zwei Meter lange Holzbretter, kunstvoll angemalt mit verschiedenen Symbolen und versehen mit großen goldenen und silbernen Inschriften in Zhang-Zhung-Sprache.[1]

Brennmaterialien werden auf das Ritualfeld getragen und an der Nordseite aufgestellt.

Die beschrifteten Bretter wurden, bevor man sie dem Feuer übergab, einzeln herumgereicht, so dass jeder der Anwesenden sie aus nächster Nähe sehen und sie in traditionaller Weise mit Händen oder Stirn berühren konnte. Zuerst machten sie ihren Weg durch die Reihen der Monastischen, danach wurden sie die Tribünen hinaufgereicht, so dass sie an jedem der Zuschauer einmal vorbeizogen. Gleiches geschah mit den wenigen, dafür aber um so größeren, kuchenförmigen und bunt dekorierten Tormas (tib.གཏོར་མ, Wylie: gtor ma, essbare unterschiedlich geformte Opfergaben aus Teig).

Nachdem die letzte Opfergabe dem Ofen übergeben wurde, wurden alle Anwesenden mit Buttertee und Kapsé (einer bestimmten Gebäckart, die traditionell zu festlichen Anlässen gereicht wird) versorgt.

Dies war der Moment, in dem wir leider den Ort des Geschehens verlassen mussten, um dafür zu sorgen, dass unser bestelltes Taxi, mit dem wir heute noch zum Flughafen Delhi gelangen wollten, nicht ohne uns wieder abfahren würde.
Nachdem wir Entsprechendes mit dem Fahrer geklärt hatten, gingen wir noch einmal zurück zum Ort der Zeremonie, eigentlich hauptsächlich, um zu sehen, wo unser dritter Mit-Fahrgast stecken könnte, mit dem wir verabredet waren.

Mittlerweile hatte sich die Zeremonienaufstellung aufgelöst, und die Empore, auf der der Ofen stand, war für alle freigegeben, so dass jede und jeder den Ofen nun aus nächster Nähe gegen den Uhrzeigersinn umrunden und – sich ein Stück abgekühlter Kohle mitnehmen durfte, die um den Ofen herum zu finden war.

Ein weiteres, für diese Reise letztes Mal machten mich die aufeinanderprallenden Konotationen und Konzepte, die sich in nur einer einzigen Situation alle gleichzeitig vor mir ausbreiteten, handlungs- und reaktionsunfähig. Ich verstand durchaus die Worte mehrerer westlicher Besucherinnen, die mich immer wieder dazu aufforderten, mich in die Miniatur-Runde einzureihen und doch um Himmels Willen ein Stück Kohle aufzuheben und mit nach Hause zu nehmen. Gleich sei diese Chance vorbei.

Aber ich konnte mich nicht bewegen. Um den Ofen vor mir drängten sich in diesem Moment fröhlich lachend überwiegend jugendliche Mädchen aus dem Dorf und gaben dem Geschehen etwas von einem Reigen auf einem Sommerfest, – an demselben Ort, der gerade eben noch, bevor ich gegangen war, um mit dem Taxifahrer zu sprechen, von höchster Bedeutung und Heiligkeit umgeben war.

Ganz hatte sich diese Heiligkeit auch noch nicht aufgelöst. In unveränderter Würde stand an einer Ecke der Empore außerhalb des Reigens einer der Hüter des Feuers und überblickte ruhig das Geschehen. Mit einem kurzen, oft nur angedeuteten Auflegen der Hand auf das rechte Schulterblatt all derer, die an ihm vorbeizogen, schien er sich mit jeder und jedem Einzelnen in Beziehung zu setzen und so dafür zu sorgen, dass das Treiben nicht aus den Fugen geriet und alle aufmerksam genug blieben, dass weder jemand stolperte und sich am Ofen verbrannte noch von der geländerlosen Empore fiel, die an jeder Seite nur mit zwei Bändern gesichert war.

Irgendwann wurde ich hineingezogen in den Reigen und drehte ebenfalls eine Runde. „Heb ein Stück Kohle auf!“, forderte ich mich selbst immer wieder auf, war aber unfähig, dies zu tun. Denn der Teil in mir, der wohl noch einige Zeit brauchen würde, um zu begreifen, dass das Thema „Feuer“ jetzt offensichtlich beendet war, antwortete immer nur: „Aber Kohle ist doch heiß! Man kann keine Kohle anfassen, sonst verbrennt man sich.“ Ich glaube, das kleine Kind in mir hatte dies vor sehr langer Zeit einmal beim Grillen beigebracht bekommen und sich offenbar sehr zu Herzen genommen.

Zum Glück muss ich wohl äußerlich genauso konfus ausgesehen haben wie es sich innerlich in mir anfühlte, so dass meine Reisebegleiterin Christine die Situation richtig einschätzte, kurzerhand ein Stück Kohle für mich mit aufhob und es mir später in unserem Flughafenhotel übergab.

Nun liegt es hier bei mir zu Hause, eingewickelt in weißen Stoff und zusammengebunden mit einem dunkelroten Band.
Vielleicht sollte ich es auswickeln, so dass ich es wirklich sehe. Denn in seiner momentanen Verpackung erinnert es mich merkwürdig unnachgiebig an das Wappen des Templerordens. Waren die Templer je in Tibet?

Wie sind die Neumen zu uns gekommen, damals, wohl noch vor der Zeit der Kreuzzüge? Was wurde noch ausgetauscht zwischen den beiden Enden der Seidenstraße, von dem wir es vielleicht nie erwartet hätten?

Was macht er mit uns, dieser stille, unblutige Austausch, der sich damals wie heute leise um die laut ausgerufenen Krisenherde der Weltpolitik herumschlängelt und sich einfach vollzieht?

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[1] Allgemeine und weiterführende Informationen zu Zhang-Zhung:
https://en.wikipedia.org/wiki/Zhang-Zhung_language
http://himalaya.socanth.cam.ac.uk/collections/journals/jiabr/pdf/JIABR_01_10.pdf
https://verlag.oeaw.ac.at/Zhang-Zhung
https://www.northatlanticbooks.com/shop/a-history-of-zhang-zhung-and-tibet-volume-one/
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