Verbrennungsritual 5: “Kuck, da ist die Seele!”

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Das Verbrennungsritual selbst kann ich nicht beschreiben. Nicht in dem Sinne, dass ich Erläuterungen zu den einzelnen kultischen Handlungen und Elementen geben könnte. Ich kann nicht sagen, was die einzelnen rituellen Handlungen zu bedeuten hatten, die ich meinte voneinander unterscheiden zu können, und es gab zu viele von ihnen, um sie einfach nur beschreibend aneinanderzureihen. Den Aufbau und Ablauf eines Rituals wie das der Verbrennung eines Menri-Trizins für eine Westlerin oder einen Westler verständlich und aus emischer Perspektive trotzdem adäquat darzustellen bedarf der Zusammenarbeit einer erfahrenen Tibetologin oder eines Tibetologen mit einer ebenso erfahrenen und bis zum Geshé-Grad ausgebildeten Nonne oder einem ebenso ausgebildeten Mönch.

Was ich sagen kann, ist, dass ich gesehen habe, wie der Leichenschrein des 33. Menri-Trizins oben auf den Ofen aufgesetzt wurde und diesen nun gewissermaßen „krönte“. In mir entstand das merkwürdig überraschende Gefühl, dass erst mit dem Aufsetzen des Leichenschreins der Ofen wirklich fertiggestellt war. Als sei der Leichnam zwingend dazugehörender Teil eines Kunstwerkes, welches in den vergangenen Tagen vor unser aller Augen neben dem Haupttempel entstanden war.
Dieses Kunstwerk war nun komplett. Und auf irgendeine mich tief im Innern berührende Weise war es wunderschön.

Nach diesem kurzen Moment der Schönheit wurde nacheinander an allen vier unteren Öffnungen des Ofens mit Fackeln das Feuer entzündet, langsam und in einer bestimmten Reihenfolge der Seiten, wie mir schien. Das Holz nahm die Flammen schnell an und binnen nicht mehr als ein bis zwei Minuten stieg der erste Rauch auf. Erst sehr fein, dann aber schnell anwachsend zu einer dichten grauen Nebelschwade, die kontinuierlich aus der oberen Öffnung des Verbrennungsofens weiter hoch Richtung Himmel und ein wenig zu den Seiten wuchs.

Ich glaube, es war der Moment, in dem der feine Rauch des Anfangs in eben diesen dichten grauen Qualm umkippte, dass mein konzeptionelles Fassungsvermögen aussetzte. Ich kann mich für die Dauer der gesamten weiteren Zeremonie an keinen längeren Gedankengang und noch viel weniger an irgendein Gefühl mehr erinnern, dass ich unter Umständen gehabt haben könnte. Da war absolut nichts, keine Reaktion, außer einer Art innerer Stimme, die, wie um dafür zu sorgen, dass ich trotz des unterscheidungslosen Nichts in mir weiter aufmerksam blieb, immer mal wieder die Worte wiederholte: „Sieh hin, da wird ein Leichnam verbrannt. Der Leichnam Lungtok-Tempa’i Nyimas. Du hast ihn kennengelernt. Sieh hin, der Körper des Menri-Trizins wird verbrannt.“
Doch die einzige Reaktion meines Inneren auf diese freundlich ermahnenden inneren Kommentare war nichts weiter als ein verständnisloses inneres Nicken, und der Teil in mir, dem dieses Nicken wohl zuzuordnen war, fuhr fort, mit derselben Verständnislosigkeit weiter auf das Geschehen um und über dem stupaförmigen Verbrennungsofen zu starren.

Ich erinnere mich, dass nach einiger Zeit Flammen oben aus dem Ofen schlugen. Ich erinnere mich, dass für kurze Zeit, als der Wind für einen Moment ungünstig stand, einige der Anwesenden anfingen zu husten. Ich erinnere mich, dass sich der nebelige Himmel im Verlauf der Verbrennungszeremonie in strahlendes Blau verwandelte, als hätte er sich über den Rauch gefreut, den wir ihm zugeführt hatten und wollte uns mit seiner unendlichen Ausdehnung belohnen, angefüllt mit dem glänzenden Sonnenlicht früher Vormittage in Dolanji.
Ich weiß nicht, ob die Zeremonie lange oder kurz dauerte, – mein Kameramitschnitt wird es mir demnächst verraten. Ich weiß auch nicht mehr, um wieviel Uhr sie anfing oder wann sie aufhörte. Die durchwachte Nacht hatte es sinnlos gemacht, nach der Zeit zu fragen.

Irgendwann jedoch, ich weiß nicht, ob es in der Mitte oder doch erst gegen Ende der Ritualhandlungen war, lugte das Kind hinaus aus meinem verständnislos dastehenden Selbst, und fand innerhalb des Gesamtgeschehens ein Detail, das seine Neugier fesselte und mit dem es schnell in eine Art freundschaftlich-staunende kommunikative Beziehung trat:

Ein gutes Stück oberhalb der Flammen, eigentlich mitten in den qualmenden Schwaden, war etwas angebracht, für das ich zum damaligen Zeitpunkt weder den Namen noch die genaue Funktion kannte, den Schirmteil eines Parasol (tib. གདུགས, Wylie: gdugs) nämlich. Auf den ersten Blick schien es sich für mich jedoch um den Stoffteil eines in spezieller Weise gebauten Sonnenschirmes zu handeln, desselben Schirmes, von dem ich mich, auf den Rauch blickend, genau erinnerte, dass dasselbe Modell auch damals über Rinpoche gehalten wurde, als er im April aus den USA zurückkam und in Dolanji vor dem Tempel saß, um von dort die Menge aller Anwesenden zu begrüßen, die den Tempelhof füllte. Es war ein orangefarbener Schirm, von dem ich schon damals sah, dass er nicht in erster Linie die Funktion eines Sonnenschutzes haben konnte – denn die Treppe, vor der Rinpoche damals saß, lag im Schatten.

Was auch immer es also mit diesem Schirmelement auf sich hatte, im Moment hing es relativ hoch über dem Ofen, so hoch, dass es offensichtlich nicht verbrennen konnte, aber niedrig genug, dass die aufsteigende Hitze fortwährend mit ihm spielte. Dadurch schien es in geradezu eleganter Weise zu tanzen und nahm beständig andere Formen an. Der Qualm verhinderte außerdem, dass man die Konstruktion sehen konnte, an der der Parasol befestigt war, und so jauchzte der Anteil kindlicher Phantasie in mir auf vor Freude über dieses sich wie von allein über den Flammen bewegende, organisch anmutende Objekt und rief aufgeregt: „Kuck, da ist die Seele!“ – (ein Konzept, was es im Tibetischen so gar nicht gibt) – „Sie fliegt jetzt frei am Himmel und ist glücklich.“

Parasol (tib. གདུགས, Wylie: gdugs), einige Meter über dem Ofen


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