Verbrennungsritual 4: Räume und Wege

-> zur Inhaltsübersicht…
<- zum vorigen Artikel…                  -> zum nächsten Artikel…

Zuschauerraum

Es war genauso erfreulich wie merkwürdig, dass der ausgewählte Ort für das Verbrennungsritual Platz für genau die Menge an „Zuschauern“ bot, die tatsächlich anwesend waren, und immer wieder kreisen meine Gedanken um die Frage, wie sich das eigentlich im Vorhinein überblicken ließ. In Deutschland hätte man den Ritualort wohl der maximal zu erwartenden Besuchermenge angepasst und ihn vermutlich vorsorglich auf einen nach allen Seiten hin offenen Acker verlegt, um einen flexiblen Umkreis für die unkalkulierbare Menge der Angereisten zu schaffen. Hier in Dolanji schien man es andersherum zu handhaben und die Zuschauermenge kurzerhand an das Fassungsvermögen des Ortes anzupassen, an dem das Ereignis stattfinden sollte. Nur – wie macht man das?

So, wie es beim fünfstündigen kollektiven Umrunden des Tempels keinen Plan und keinen Aufpasser gab, auch keinen selbsternannten oder spontan sich ergebenden, gab es auch keinerlei Formalitäten für die Teilnahme an der Verbrennungszeremonie. Dabei ging die Einladung an die gesamte englischsprechende, mit dem Menri-Kloster über die sozialen Netzwerke in irgendeiner Weise in Verbindung stehende Welt, und natürlich nicht nur an diese. Trotzdem wurde keine Rück- oder Anmeldung von den Anreisenden gefordert, keinerlei „Obergrenze“ war festgelegt, für deren Überschreitung man sich bereits im Vorhinein hätte darauf einstellen müssen, das Ereignis eventuell nur über Monitore oder vielleicht sogar gar nicht mitverfolgen zu können.
Man konnte den Ort der Zeremonie aber auch nicht erst spontan an die tatsächliche Zuschauermenge angepasst haben, denn der Ort hing ja vom Standort des Verbrennungsofens ab, und dieser lag bereits fest, bevor wir uns überhaupt entschieden hatten zu kommen.

Es gab also keine für mich ausmachbare kontrollierende oder kalkulierende Instanz, die im Voraus hätte überblicken können, welche Zuschauerkapazitäten der Ort der Zeremonie aufweisen musste, um eine befriedigende Teilnahme für alle zu ermöglichen.
Und trotzdem hatten alle Platz. So, als wäre dies das Normalste von der Welt, als könne es zu so einem Ereignis gar nicht anders sein, als dass alle den Raum zur Verfügung gestellt bekommen, den sie benötigen.

 

Ritualraum

Noch bevor der Leichenschrein sich auf den Weg von seiner Wohnung zum Feuer machte und den Tempel dabei zum letzten Mal umrundete, strömten ein Teil der Mönche und – eine Delegation der tibetischen Exilregierung aus Dharamsala auf das Ritualfeld vor die große steinerne Ofen-Empore. Nun, vom U-förmigen Kranz der “Zuschauertribünen” umgeben, nahm sich diese Empore ein wenig aus wie ein Bühnenpodest, das den Ofen zum einen auf gleiche Höhe mit dem Haupttempel des Klosters hob und ihn zum anderen zum höchsten Punkt innerhalb des Ritualfelds machte.

Die Delegierten aus Dharamsala nahmen ihren Platz vom Zuschauerraum aus gesehen rechts vorne vor der „Bühne“ ein. Links vorne wurden die Musiker und ein kleiner Tisch mit den Requisiten für das bevorstehende Ritual platziert. Dass die Gruppe von politischen Ehrengästen direkt in das Ritualfeld hineingesetzt wird, lässt mich während des gesamten Rituals immer wieder die Klarheit darüber zurückgewinnen, dass ich mich eben nicht in der Aufführung irgendeines künstlerischen Werkes befinde, wie mein Verstand es der Einfachheit der Verarbeitung halber immer wieder gerne gehabt hätte, sondern dass das hier „echt“ ist – wie auch immer ich darauf komme, eine Trennung zwischen Kunst und “echt” vorzunehmen, und das auch noch als Künstlerin.

Der leicht surreale Eindruck, den die Gruppe von Politikern zwischen den Mönchen in ihren anlässlich des Rituals angelegten tantrischen Hüten und festlichen gelben Überwürfen auf den roten Roben hervorruft, bleibt aber trotzdem nicht ganz aus. Es wirkt auf mich einfach ein wenig so, als hätte man Angela Merkel samt Kabinett zur Rheingold-Premiere, statt sie in die erste Reihe oder in eine Loge zu setzen, kurzerhand in das Bühnenbild selbst integriert.
Warum ich in meinem Vergleich bei Wagner lande, weiß ich nicht. Spontan würde ich sagen, es liegt an der Menge der Geistwesen, von denen dort wie hier ausgegangen wird, in Kombination mit der Art des Anlasses, der mir mit einer Götterdämmerung einfach stärker verwandt zu sein scheint als mit dem Plot von Peer Gynt.
Vielleicht, und das wäre traurig, liegt es aber auch daran, dass ich, dem besonderen Anlass entsprechend, während der gesamten Woche auf besonders viele Yungdrung-Symbole geblickt hatte, linksdrehende Swastikas, zu deutsch: Hakenkreuze, geformt aus allen Arten von Material, die u.a. auf die Unvergänglichkeit und Unzerstörbarkeit des erleuchteten Buddha-Geistes und die Essenz des Yungdrung-Bön hinwiesen.
Vielleicht ist die korrigierende Neuverknüpfung eines so starken Symbols mit einem andern als dem zuerst von den Eltern und im Geschichtsunterricht gelernten Bedeutungsinhalt doch ein sehr viel längerer Prozess als ich es wahrhaben möchte. Und viele Heilungsrituale werden unter Umständen noch nötig sein, bis die Reihe in mir denkender Ahnen beim Anblick des Symbols nicht augenblicklich in faschistoide Denkgräben fällt und mir die Sicht auf die wirkliche Bedeutung des Geschehens, dem ich nun hier in den ersten Höhenzügen des Himalayas beiwohne, völlig vernebelt. Denn das wäre traurig. Aber möglich.

Die Gruppe der Delegierten wurde eventuell nicht nur aus Gründen der Ehre im Ritualfeld untergebracht, sondern die PolitikerInnen hatten möglicherweise tatsächlich Aufgaben und Funktionen innerhalb der Zeremonie. Da der Menri-Trizin als Oberhaupt der gesamten Tradition ja nicht nur den spirituellen „Vorsitz“, sondern auch politische Funktion hatte, halte ich dies für gut möglich. Es ist meiner Beobachtung aber entgangen.

 

Wege

Ich glaube, es war, nachdem die Dharamsala-Delegation ihre Position im Feld eingenommen hatte, dass eine relativ große Gruppe von Mönchen das Feld strömte, um sich schließlich in mehreren Reihen hintereinander vor der Empore, auf der der Ofen stand, aufzustellen. Ich sage „strömen“, denn was ich wahrnahm, war eine auffallend kontinuierliche, langsame und doch unaufhörlich fließende Bewegung von dicht hintereinander das Ritualfeld betretenden Mönchen. Diese Reihe strömender Mönche begann, nachdem sie das Ritualfeld betreten hatte, sich auf dem Weg zu ihren Plätzen teils zu verzweigen, teils recht verschlungene Umwege zu gehen, die einer bestimmten Choreographie zu folgen schienen, welche so gelungen war, dass ich froh bin, sie auf Video zu haben, um sie zu künstlerischen Studienzwecken später noch einmal genauer ansehen zu können.

Gibt es im Westen eigentlich, außer auf der Bühne, einem der Sonderräume von Kunst, irgendein Ritual oder einen zeremoniellen Anlass, bei dem die Ausführenden „runde Umwege“ gehen? Gibt es Anlässe, bei denen der rituelle Gang nicht gleichzeitig auch der direkteste ist? Die organisch-verschlungene Choreographie der Mönche erinnernd, will mir nichts anderes einfallen als der Gang des Brautpaars zum Altar und das letzte Geleit des Sarges oder der Urne zum Grab. Beides geschieht auf direktem Wege. Die Bedeutung des Weges wird durch den Kontext und die Art des Gehens hergestellt, aber nicht durch den Weg selbst.

Gibt es einen zeremoniellen Anlass, irgendeinen kulturellen Kontext, irgendeine Tradition außerhalb der Bühne, in dem wir zurückgelegten Wegen bedeutungsmitkonstituierende Funktion geben?

<- zum vorigen Artikel…                  -> zum nächsten Artikel…