Grenzgänger Wettbewerb – Nachlese –

In diesem Jahr fand zum ersten Mal der Folkwang Video Wettbewerb statt. Das Thema lautete in Anlehnung an das Thema des NOW! Festivals “Grenzgänger”.

Die Jury setzte sich zusammen aus:

Tanja Langenberg, künstlerische Leiterin der Videonale Bonn
Prof. Elke Seeger, Professorin für Fotografie und Konzeption und Prorektorin der Folkwang UdK
Prof. Dietrich Hahne, Professor für Komposition und Visualisierung an der Folkwang UdK

Unter den über 60 Einsendungen aus aller Welt vergab die Jury die drei vorgesehenen Preise sowie eine “Ehrenhafte Erwähnung” (honorable mention):

1.Preis: Ludwig Berger / Michael Kugler (CH/DE):            Cranachstrasse 47
2.Preis:  Antonio Mastrogiacomo & e-cor ensemble (I): Accidente
3.Preis: Roberto Zanata(I):                                                   Ein Exempel
Honorable Mention: Marjan Markelj:                                Ikarus|Blackbox

Die Werke wurden am 28.10. im Rahmen des NOW! Festivals aufgeführt. Frau Prof. Seeger hielt die Laudationes auf die anwesenden Preisträger, die am Nachmittag während des Symposiums zum Thema auch die Möglichkeit hatten, über ihre Arbeit zu berichten.

Wir gratulieren den Preisträgern und hoffen, den Wettbewerb auch in den nächsten Jahren wieder durchführen zu können.

Die Begründungen und Laudationes der Jury:

Ludwig Berger und Michael Kugler (Schweiz)
CRANACHSTRASSE 47 – 1Ch-Video, sw, 05:59, 2017 (1.Preis)

Das Werk Cranachstraße 47 von Ludwig Berger und Michael Kugler führt uns in das Innere eines Hauses mit bewegter Geschichte. Die Villa Dürkheim in Weimar, gebaut 1913 nach Plänen von Henry van de Velde, wurde seitdem als privates Wohnhaus ebenso genutzt wie als Sitz der sowjetischen Kommandantur und Kreisverwaltung der Stasi. Zwar kommt die Geschichte des Gebäudes in der Arbeit von Berger und Kugler nicht zur Sprache, jedoch bringen sie dezent und doch wirkungsvoll die in der Architektur verborgene Aura auditiv und visuell zum Klingen. Die Künstler nutzen hierfür allein das vorhandene Lichtsystem des Hauses, das sie durch gezieltes Ansteuern manipulieren. Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera dokumentieren sie die visuellen Effekte dieses Eingriffs. Die durch das Flimmern erzeugten Klänge werden ebenfalls aufgezeichnet, verstärkt und per Impulsantworten zurück in den Raum gespielt. Das Licht dient hier gleichsam als omnipotentes Instrument, das das Ausgangsmaterial für sowohl die klangliche als auch die visuelle Komposition liefert – ohne Licht existiert kein Bild und in diesem Fall auch kein Ton. Durch die Verschränkung der beiden Ebenen entwickelt sich eine komplexe Komposition aus dem Lichtklang und den einzelnen offengelegten architektonischen Details, die sich in einem ständigen Dialog befinden. Es scheint fast so, als lege das Gebäudes seine Psyche frei und trete in Kommunikation mit uns als zunächst unbeteiligten Betrachtenden, die dann aber – mit fortschreitender Dauer der audiovisuellen Komposition – immer weiter in die Gänge und Untiefen dieses Hauses und seiner bewegten Geschichte hineingezogen werden. Das Video überzeugt nicht nur durch technische Brillanz und Darstellung der gezeigten Details. Die Jury war vor allem beeindruckt von der Konsequenz und gleichzeitigen Leichtigkeit mit der Berger und Kugler mit ihren minimalen Interventionen in den akustischen wie architektonischen Raum eine zweidimensionale Klangskulptur entstehen lassen, die den Seh- und Hörsinn gleichermaßen herausfordert. Sie verfolgen auf visueller wie auditiver Ebene eine klare Dramaturgie, die den Betrachtenden fesselt und mitnimmt auf eine Reise in das Innerste eines sonst stummen Gebäudes. Das Werk Cranachstraße 47 lässt dem Zuschauenden- und hörenden ausreichend Freiraum, um eigene Zwischenbilder und -töne zu entwickeln. Die Souveränität mit der die Künstler ihre Bild-Klang-Komposition aufbauen, hat uns von Beginn an überzeugt und wir freuen uns, den ersten Preis des ICEM Videopreises 2017 an Ludwig Berger und Michael Kugler vergeben zu können.

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Antonio Mastrogiacomo & e-cor ensemble (It)
ACCIDENTE – 1Ch-Video, sw, 04:08, 2017 (2. Preis)

Superstizione – auf deutsch „Aberglauben“, so heißt ein früher 9-minütiger Kurzfilm von Michelangelo Antonioni, den er 1949 in der italienischen Region Marken drehte. Eine schwarze Katze kreuzt die Strasse, ein Mädchen lässt einen Schminkspiegel fallen, der zersplittert. Ein kleiner Junge wird im Wasser gebadet, in dem eine Münze, eine Feder, Scheren, ein Stück Eisen und Holz liegen. Ein buckliger Magier mit Zauberring und Wunderkräutern gibt einem Mädchen Zuversicht, dass ihr Verlobter sich wieder meldet. Eine Wunderheilerin will das Böse aus einem reuigen jungen Mann treiben mit Kreuzzeichen, Öl und Korn. Ja, man sieht sogar wie eine giftige Viper gefangen, mit einem Schlag auf den Kopf betäubt und schließlich ins Feuer geworfen wird. Da windet sie sich und braucht lange, bis sie endlich tot ist. Der ganze Antonioni’sche Kurzfilm besteht aus einer Aneinanderreihung seltsamer Riten und magischer Praktiken, die ungeachtet aller sonstigen öffentlichen Frömmigkeit den ländlichen Alltag zu bestimmen scheinen. Am Anfang und Ende des Films zeigt Antonioni einen Kirchturm, womit er angedeutet, dass all dies unter den Augen und Ohren der katholischen Kirche geschieht. Offenbar existiert ein Volksglauben, der handfester Magie weit mehr Wirkmächtigkeit zugesteht als christlicher Erlösungstheologie. Antonio Mastrogiacomo & das e-cor ensemble haben aus diesem Film einen anderen, einen neuen gemacht: er heißt Accidente und ist gerade einmal 4min lang und wird heute mit dem 2. Preis des ICEM Videowettbewerbs ausgezeichnet. Die Bedeutung des Wortes Accidente ist wesentlich vieldeutiger; es kann heißen: Zufall, Unglücksfall, aber auch Schlaganfall. Was Antonio Mastrogiacomo und das e-cor ensemble hier machen, ist – kompositorisch gesprochen – eine Kontrafaktur, d.h. ausgehend von gegebenem Material – hier der Kurzfilm von Antonioni – entsteht durch entschiedenes Eingreifen und Verändern etwas Neues. Das alte Material wird neu geschnitten, verdreht, wiederholt, invertiert, vergrößert, verkleinert und auf andere Weise kompositorisch bearbeitet. Bewusst greifen die Künstler hierbei nicht auf originales Filmmaterial zurück, sondern bedienen sich dem allseits und jederzeit verfügbaren Foundfootage-Material von

Youtube, also einem Material, dem schon durch seine starke Komprimierung als digitale Internetversion erstmals Gewalt angetan wurde. In ihrer bildtechnischen Bearbeitung drehen die Künstler diese Schraube der Auflösung des Materiellen nun noch ein ganzes Stück weiter. In harten schroffen Schnitten werden einzelne Bildsequenzen aneinandergefügt und das surreale Moment des ursprünglichen Films auf die Spitze oder sogar darüber hinaus getrieben. Parallel zur Bildebene wurde auch die Klangebene einer eingehenden Dekonstruktion unterzogen: wurde dem Original 1949 eine InstrumentalMusik unterlegt, die ihrer postromantischen Klanglichkeit wegen eine rückwärtsgewandte Aura verbreitet, entsteht durch die Neuverklanglichung eine andere, durchaus ambivalente akustische Welt. Auch hier sind Instrumentalklänge zu hören, die jedoch mit harten, elektronischen Geräuschen kombiniert und so ihrer akustischen Herkunft beraubt werden. Der parallele Schnitt von Bild und Klang verstärkt den Aspekt der Kontrafaktur, besser den einer rabiaten Dekonstruktion. Es ist gleichsam so als würde das Antonioni’sche Original zersägt – und damit der Brutalität überantwortet, die in diesem zu sehen ist. Insistierende Wiederholungen von Bildern, Ausschnittvergrößerungen sowie die permanente Verdopplung des visuellen Schnitts durch akustische Ereignisse verstärken diesen Eindruck. Antonio Mastrogiacomo & dem e-cor ensemble ist damit gelungen, einem alten Volksaberglauben, der in einem alten Film mit deutlich gealterter Klang- und BildÄsthetik überliefert ist, eine aktuelle Fassung zu geben. Was das bedeutet, mag offen bleiben. In jedem Fall ist Accidente ein bemerkenswertes Werk, das historisch Überliefertes auf künstlerisch profilierte Weise mit aktueller Zeit- und Medienkritik verbindet. ________________________________________________________________

Roberto Zanata (It)
EIN EXEMPEL – 1Ch-Video, sw, 03:48, 2017 (3. Preis)

Ein Exempel nennt der italienische Videokünstler Roberto Zanata seine hier mit dem 3. Preis ausgezeichnete Arbeit. Ein Exempel ist – ein Beispiel. Fragt sich: ein Beispiel für was? Naheliegende Antwort: Ein Beispiel für das, was im Video zu sehen ist! Aber was wird im Video abgebildet? Was zeigen die seltsamen Bewegungen, mit denen das Auge konfrontiert wird. Der Sinn eines Titels oder einer Bildüberschrift besteht darin, Hinweise auf das gezeigte zu liefern. Allein: das Video verweigert weitgehend die Auskunft. Antworten ergeben sich nicht. Schon gar von allein. Und wenn, dann sind es Vermutungen und die entstehen auch nur unter Zuhilfenahme spekulativer Intuition. – Was wir sehen ist eine schwarzweiße Form. Diese ähnelt dem Umriss einer Person. Es könnte sich um ein Brustbild klassischen Zuschnitts handeln. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir Veränderungen. Natürlich, denn es handelt sich ja nicht um ein Gemälde, sondern um ein Video. Aber diese Veränderungen wirken wie Akzidentien, die mit der Bewegung der Ursprungsbilder nichts oder wenig gemein zu haben scheinen. Die Silhouette der Person bewegt sich nur wenig, es scheint als sei das Originalvideo fast bis zum Stillstand verlangsamt, so dass eher Einzelbilder als eine flüssige Bewegung wahrzunehmen sind. Das ist die äußere, gleichsam mitgegebene Bewegung. Dieser wird eine andere Bewegung überlagert. Und die ist um einiges rätselhafter. Es sieht so aus als träfen hier visuelle Verfahren des Direktfilms – bei dem direkt auf den Film gemalt, gekratzt und gestochen wird – auf digitale Verfahren. Seltsame Oberflächen entstehen, schlagen Blasen, sie erinnern an Verbrennungen oder Verätzungen, die durch Säure entstehen usw. Die Silhouette der Person wird dabei zunehmend depersonalisiert. Immer abstrakter, immer weniger Mensch wird sie. Dann kippt das Bild um. Der Klang wird intensiviert. Wir sehen nichts konkretes mehr. Alles bleibt vage. Nach weniger als 4 Minuten ist das ganze beendet. Zurück bleibt eine ebenso vage Verstörung. Wovon wurden wir Zeugen? Die Bilder liefern keine Antwort. Die Kunst der Wahrnehmung besteht darin es bei Fragen zu belassen. Roberto Zanata hat ein Video geschaffen, das sich der semantischen Eindeutigkeit verweigert. Kompositorischer Strenge, klarer Form und konsistenter Verfahren ist es zu danken, dass dem Künstler eine Arbeit gelungen ist, die die Attribute „unabgeschlossen“, „unfertig“, „zerstörend“ positiv wendet. Das Schwarzweiß-Video ist eine gelungene Gratwanderung zwischen Abstraktion und Konkretion, sowohl auf der Bild- als auch der Klangebene. Die fließenden Übergänge von einem zum anderen fesseln den Betrachtenden und entlassen ihn/sie zugleich in die Freiheit, sich selbst ein Bild davon zu machen, für was oder wen hier “ein Exempel” statuiert wird.